Asien Kurier  12/2009 vom 1. Dezember 2009
Buchbesprechung / Indien

Schattenseiten des Aufschwungs

Von Daniel M�ller in Berlin

Bei den indischen Parlamentswahlen im Jahr 2004 trat die regierende BJP-Partei mit dem reichlich selbstgef�lligen Slogan "India Shining" an. Damit sollte auf den au�ergew�hnlichen Wirtschaftsaufschwung der vorangegangenen Jahre verwiesen und gewisserma�en eine Pr�mie f�r die damalige Regierung eingefordert werden.

Bekanntlich hat die von der BJP angef�hrte Allianz die Wahl dann deutlich an das Kongress-B�ndnis verloren. Was die Parteistrategen �bersehen hatten, war der Umstand, dass den niederen Kasten und der Masse der armen Landbev�lkerung diese Losung angesichts ihrer v�llig desolaten Lebensumst�nde wie blanker Hohn vorkommen musste. Trotz dieser klaren Lektion ist die Diskrepanz zwischen dem Selbstbild der indischen Eliten als aufstrebende Wirtschaftsmacht und der realen Lage weiter Teile der Bev�lkerung weiterhin �bergro�.

Bei den auch in Indien unvermeidlichen Sonntagsreden r�umen sensiblere Vertreter der politischen Klasse zwar ein, dass der Aufschwung noch nicht �berall angekommen ist, weshalb diesbez�gliche Anstrengungen n�tig seien. Grunds�tzliche Zweifel an der eingeschlagenen Richtung lassen sie aber nicht zu. Die in Neu-Delhi lehrende Wirtschaftswissenschaftlerin Utsa Patnaik geht hier einen Schritt weiter und behauptet, dass es nicht nur nicht gelungen sei, die Armut zu wirksam zu bek�mpfen, vielmehr hat sich das Ausma� von Armut, Hunger und Unterern�hrung aufgrund der verfolgten Politikans�tze weiter erh�ht. In weiten Teilen des Landes sei ein Ern�hrungsniveau anzutreffen, das dem von Subsahara-Afrika entspreche.

Insbesondere stellt Patnaik das herrschende Dogma infrage, dass von einem Wirtschaftsaufschwung auf Dauer alle B�rger profitieren w�rden. In der Praxis habe sich stattdessen gezeigt, dass dieselben Ma�nahmen, die eine Besserstellung der Mittelschichten zur Folge hatten, die sozialen Probleme weiter versch�rft haben. So wird etwa die Landbev�lkerung, die 70 Prozent der Bev�lkerung ausmacht, kompensationslos von ihrem Ackerland vertrieben, um Platz f�r neue Industriebetriebe zu schaffen. Kritisch ist auch die Umstellung der Bewirtschaftung von Nahrungsmitteln auf exportierbare Erzeugnisse wie Baumwolle. Und ganz allgemein haben drastische Subventionsk�rzungen die Bauern in eine Schuldenspirale getrieben, aus der sie keinen Ausweg finden. Korruption und B�rokratie verschlimmern die Lage zus�tzlich.

Die Tendenz, die armen Schichten systematisch von der Mitbestimmung bei der Entwicklungsplanung auszuschlie�en, f�hrt laut Patnaik dazu, dass die sozialen Spannungen st�ndig zunehmen und sich wom�glich explosiv entladen werden. Die Ignoranz der Eliten weist Patnaik plausibel durch eine Analyse der amtlichen Statistiken nach, welche die tats�chlichen Zust�nde mindestens verschleiern. Ein Manko der Aufsatzsammlung ist jedoch der apodiktische Tonfall: An jeder sich bietenden Stelle gei�elt die Autorin die "neoliberale Ideologie", die das Handeln der Verantwortlichen bestimmt.

Dabei sind ihre Ausf�hrungen an sich aussagekr�ftig genug. So aber l�uft sie Gefahr, mit ihrem unzweifelhaft berechtigten Anliegen in die Querulantenecke gestellt zu werden. Zudem geht die Fundamentalkritik an der �ffnung des Landes, zu der es keine nachvollziehbare Alternative gibt, zu weit. Insgesamt kann Patnaik aber attestiert werden, auf gravierende Defizite der indischen Wirtschafts- und Sozialpolitik hingewiesen zu haben.

Utsa Patnaik, Unbequeme Wahrheiten. Hunger und Armut in Indien, Draupadi Verlag, Heidelberg 2009, 240 Seiten, 19,80 Euro, ISBN 978-3-937603-37-7