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Datum: 2022-12-31

Asien Kurier  8/2008 vom 1. August 2008

Asien - Asiatische Lektionen

Von Daniel M�ller in Berlin.

Die Irritationen sind nach wie vor betr�chtlich: Wie konnte es geschehen, so fragt sich eine nicht geringe Anzahl von Menschen auf der n�rdlichen Erdhalbkugel, dass gro�e Teile Asiens � historisch betrachtet � gewisserma�en �ber Nacht von Kellerkindern zur globalen Hautevolee avanciert sind. Und das auch noch mit Konzepten, die den westlichen Vorstellungen von der �berlegenheit des auf dem rigiden Selbstverwirklichungsdrang des Individuums basierenden liberalen Wirtschaftssystems in so eklatanter Weise zuwiderlaufen.
Wie bequem waren doch die Zeiten, als man noch mit einer Mischung aus Verachtung, Mitleid und auch heimlicher Bewunderung ob des orientalischen Prunks nach �Osten� schauen konnte. Perdu das alles. Denn nun geht ein Gespenst um, das Gespenst vom r�cksichtslosen und bedingungslos erwerbswilligen asiatischen Arbeiter, der seinen westlichen Kollegen Verarmung und gesellschaftliche Randst�ndigkeit beschert. Was bleibt, sind hilflose Jereminaden �ber Produktpiraterie, fehlende Umweltstandards und eine angeblich unfaire Handelspolitik.
Erkl�rbar sind dergleichen Wahrnehmungen zumeist mit einem eingeschr�nkten Blickwinkel. W�rde das Ph�nomen gr�ndlich und vorurteilsfrei analysiert, so w�rde sich rasch herausstellen, dass weniger vom asiatischen Aufstieg, sondern wesentlich pr�ziser vom Wiederaufstieg Asiens die Rede sein m�sste. Denn bis zum sprichw�rtlichen �Rise of the West� im Anschluss an die �Entdeckungsfahrten� des Christopher Columbus war das bestehende Weltsystem eindeutig asiatisch gepr�gt. Ja, selbst f�r das Jahr 1750 gehen Wirtschaftshistoriker nur von einem knappen Entwicklungsgef�lle zwischen Europa und Indien oder China von 1,5 - 2 zu 1 aus. Eine grundlegende Revision dieses Verh�ltnisses trat erst Ende des 18. Jahrhunderts infolge der Industriellen Revolution ein.
Dem schloss sich die Epoche des europ�ischen Kolonialismus an, der f�r erhebliche Deformationen der asiatischen Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme sorgte (Stichwort Opiumkriege). Neben diesen externen Einfl�ssen war jedoch vor allem die innere Sklerose verantwortlich f�r die nun anbrechende �ra des Siechtums. Ausgehend von Japan, dass schon im Zuge der Meiji-Reformen eine veritablen Modernisierungsschub verzeichnete, erfolgte dann nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges die Gegenbewegung. Gleichsam �im G�nseflug� folgten den Schwellenl�ndern der ersten Generation (S�dkorea, Taiwan, Hongkong, Singapur), in den 80er Jahren die Schwellenl�nder der zweiten Generation (Malaysia, Thailand, Indonesien). In den 90er Jahren schlie�lich stiegen auch China, Indien und Vietnam zu Wachstumsregionen empor. Dass die B�ume auch f�r die asiatischen Volkswirtschaften nicht in den Himmel wachsen, zeigte die Asienkrise von 1997. Langfristig betrachtet erscheint sie jedoch lediglich als Wachstumsdelle.
Im Ergebnis stehen heute zweistellige Wachstumsraten, gigantische Devisen- und Handels�bersch�sse � sowie eine massive Verunsicherung des Westens zu Buche. Dort werden allenthalben Mutma�ungen �ber die Ursachen des asiatischen Aufstiegs angestellt. F�r die �konomische und politische Elite in Europa ist die Ursache des eigenen Schw�chelns klar: Die Segnungen des Sozialstaates haben zu einer Besitzstandshybris gef�hrt, die jegliche Eigeninitiative erstickt und f�r Innovationen keinerlei Raum mehr l�sst. Die L�sung liegt f�r sie entsprechend auf der Hand: L�hne runter, Arbeitszeiten rauf, K�ndigungsschutz weg. Allerdings vermag diese Lesart nicht die Probleme, die gerade die Vereinigten Staaten mit dem asiatischen Aufstieg haben zu erkl�ren. Popul�r ist dort die Saga vom unfairen Handelspartner: W�hrend die Asiaten den amerikanischen Markt mit ihren Waren �berschwemmen, weigern sie sich hartn�ckig, die tollen Produkte made in USA zu erwerben.
Was ist also die Ursache f�r den momentanen Gezeitenwechsel in der globalen Politik und Wirtschaft? Ist es vielleicht die Bildungsbeflissenheit der Asiaten, gar ein besonderer Genius Loci, der Ideen nur so sprudeln l�sst? Wahrscheinlich ist der Hintergrund wesentlich banaler. Denn im Gegensatz zum Westen, wo sich das M�rchen von der eigenen kulturellen �berlegenheit nach wie vor gr��ter Beliebtheit erfreut, haben die Asiaten die Voraussetzungen der westlichen Dominanz penibel studiert. Haben eifrig Marx, Freud und Schumpeter gelesen, sind nach Oxford, Heidelberg und Berkeley gepilgert, bewundern Mozart, Van Gogh und Shakespeare. In der Gegenrichtung besteht hingegen bestenfalls eine nonchalante Indifferenz.
Der erbarmungsw�rdige Zustand von Indologie und Sinologie an deutschen Universit�ten legt ein trauriges Zeugnis von dieser Attit�de ab. Wer ist schon Tangore, wer Sun Tzu, was hat uns Mo-ti schon zu sagen? Was verst�rt, ist die selbstgef�llige Arroganz, mit der andere Weltsichten schlicht f�r irrational erkl�rt werden. Diese Selbstzentriertheit k�nnte sich jedoch dramatisch r�chen. Dabei ist die Lehre der Geschichte doch glasklar: Das Lernen von Anderen ist die Voraussetzung jeglichen Fortschritts � eine Lektion, die die Asiaten beherzigt haben.
Das hei�t nicht, dass man nun unreflektiert die asiatischen Arrangements kopieren sollte. Dies w�re schon deshalb unsinnig, weil dort insbesondere im politischen Bereich vieles im Argen liegt, was einer dringenden Reform bedarf. Zumal sich angesichts zum Teil v�llig verschiedener historischer Erfahrungen gewachsene Praktiken nicht einfach transplantieren lassen. Aber das asiatische Gesellschaftsverst�ndnis auf �bernehmenswertes hin pr�fen, das kann man schon. Dann w�rde man eventuell erkennen, dass der exzessive westliche Individualismus allm�hlich die Voraussetzungen des Zusammenlebens unterminiert.
Dann k�nnte man fragen, warum dort tats�chlich ein h�heres Bildungsethos existiert. Wieso die Bereitschaft zur Erneuerung so ungleich h�her ausgebildet ist. Dies k�nnte die Erkenntnis des globalisierten Zeitalters sein: Wer nicht bereit ist �ber seinen Tellerrand zu schauen, der wird �ber kurz oder lang zur�ckfallen. Die Botschaft lautet folglich: Zuh�ren, hinschauen, hingehen. Vielleicht gibt es ja wirklich etwas, was man lernen kann.